Ein Kommentar von Prof. Dr. Gerhard Nowak
Ich habe so viel wie möglich von den Olympischen Sommerspielen in Paris gesehen. Auf Eurosport, in der ARD und im ZDF. Von Klettern und Golf über Basketball und Turnen bis hin zu Tennis und Bogenschießen: großartige Wettkämpfe vor Bilderbuch-Kulissen. Wer unter dem Eiffelturm die Beachvolleyball-Spiele vor Ort gesehen hat, wird diese Eindrücke nicht vergessen. Boxen auf dem Centre-Court von Roland Garros, mega. Reiten vor dem Schloss Versailles, königlich. Insofern waren es die Spiele der Zuschauer, der Fans. Die Stimmung war an allen 35 Sportstätten goldmedaillenwürdig. Auch wenn bei einigen Wettkämpfen bei den Schiedsrichtern und dem heimischen Publikum die Fairness aus dem Blick geriet. Es war ein multiples Hochamt des Weltsports mit evolutionären Neuerung wie Skateboard, Sportklettern, Breaking und Surfen, auch wenn das 15.000 Kilometer von der französischen Hauptstadt entfernt auf Tahiti stattfand.
Acht-Milliarde-Euro Traum
Paris, als Gastgeber urbaner Spiele, hat die Messlatte für Los Angeles (2028) und Brisbane (2032) hochgelegt. Drunter durchlaufen kann jetzt niemand mehr. Aber wollen wir wirklich dieses Spektakel? Was wird nachhaltig bleiben von diesem Acht-Milliarden-Euro-Projekt? Würden wir in Deutschland diesen Scheck einlösen?
Fauxpas: Olympisches Feuer gelöscht
Hochgespannt war ich auf die Eröffnungsfeier, die ja erstmals außerhalb eines Stadions stattfand. Dieses mehr als vierstündige Event war der Fingerzeig, wie die zweiwöchige Leistungsshow inszeniert wird: Es geht um Bilder, Bilder, Bilder. Spektakulär die Fahrt der über 600 Boote auf der Seine. Atemberaubende Szenen entlang der Seine vor und auf den historischen Gebäuden von Paris. Buchstäblicher Höhepunkt für mich: Céline Dion. Auf dem Eifelturm stehend singt sie die „Hymne an die Liebe“ von Édith Piaf. Kraftvoll und überzeugend. Gänsehaut.
Der Tiefpunkt der Eröffnung war dann das Löschen des olympischen Feuers. Denn die Schlussläufer übergaben das Feuer nicht in eine brennbare Schale unterhalb einer Montgolfière. Diese beinhaltete nur LED-Lampen und Wasserdampf. Das war ein unverzeihlicher Fauxpas – und das IOC schaute kritiklos zu. Der zweite Fehltritt des Abends war die Missachtung religiöser Symbole. Die für Christen abstoßende Abendmahl-Szene wurde vier Tage später vom olympischen Komitee als „Gelage der Götter des Olymps“ erklärt. Zu spät. Scheinheilig. Bei heftigem Dauerregen wurden die Athleten teilweise gezwungen, aus dem Unterdeck nach oben zu kommen, damit die TV-Bilder sorgenfrei um die Welt gehen.
Victory-Selfie für den IOC-Sponsor
Die Veranstalter zwangen die Medaillengewinner, für den IOC-Sponsor Samsung „Victory-Selfies“ zu machen. Nach der ominösen Regel 40 des IOC dürfen Sportlerinnen und Sportler unmittelbar vor und nach sowie während der Spiele keine Werbung für ihre Sponsoren machen. Ein ungewollter Nebeneffekt dieser Zwangshandlung war für mich das Selfie der nord- und südkoreanischen Tischtennisspieler im Mixed-Wettbewerb. Da staunte die Weltpolitik.
Weltklasse die chinesische Badminton-Spielerin He Bingjiao. Sie gewann im Halbfinale gegen die Spanierin Carolina Marín, weil sich diese führend das Knie verdreht und nicht weiterspielen konnte. Im Finale errung He Bingijiao die Silbermedaille, hält aber bei der Siegerehrung einen Pin mit der spanischen Flagge hoch. Sportsgeist!
Team D unter den TOP 10
Bezogen auf den Medaillenspiegel geht die Talfahrt des deutschen Spitzensports weiter: In London 2012 gab es 44 Medaillen, in Rio 2016 42 Medaillen und in Tokio 37 Medaillen. Jetzt sind es in Paris 33 geworden. Dennoch ist das Team D unter den Top 10 der Welt. Wohlgemerkt: Das Team D ist in 42 Disziplinen mit der größten Mannschaft aller Zeiten angereist: 429 Athleten und Athletinnen (sowie 44 Ersatzathleten und -athletinnen). Für 173 Athleten und Athletinnen waren es mindestens die zweiten Olympischen Spiele, 256 Sportler und Sportlerinnen feierten in Paris ihr Olympisches Debüt. Ich bin gespannt, wie der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) der Bundesregierung erklärt, dass die jährlich rund 300 Millionen Euro Steuergelder für den Spitzensport effektiv eingesetzt sind. Bei den Nachbesprechungen wird man darauf hinweisen, dass bei den zwölf Goldmedaillen nur acht Sportarten vertreten waren, bei denen vor allem Reiten und Kanu die Bilanz aufhübschen. Natürlich hatten wir viel Pech im Basketball der Männer und Frauen und auch im Hockey und in der Leichtathletik wäre mehr drin gewesen. Aber: hätte, hätte – Fahrradkette.
Bon voyage, Olympia!
Globale Sportevents wie diese Olympischen Spiele sind ein Macht-Platz der Politik und des internationalen TV-Marketings. Die Athleten und Athletinnen erhalten weniger als fünf Prozent der Einnahmen des IOC, bringen aber die vermarktbare Leistung. Irrsinn. Bei den Olympischen Winterspielen wird sich die dramatische Ausbeutung von Natur und Menschen noch deutlicher zeigen, davon bin ich überzeugt.
Ich bin froh, dass mir meine Hochschule ermöglicht, die Paralympics und den korrespondierenden Fachkongress EASM24 zu erleben. Bei diesem Kongress kommen über 450 Kolleginnen und Kollegen aus Europa und der ganzen Welt nach Paris. Mal sehen, wie sich dann die Stadt der Liebe präsentiert. Auf jeden Fall erhalten die Pariser nach den Paralympics ihre Stadt zurück. Und damit auch ihre Probleme: Wohnungsnot, Kriminalität, Arbeitslosigkeit, um nur ein paar zu nennen.
Die olympische Karawane dagegen zieht weiter. Bon voyage!