IST-Experteninterview zur Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung in Unternehmen: Mit VisionGesund Geschäftsführer Michael Bode sprachen wir über die steigende Nachfrage, die allgemeine Umsetzung, die sich abzeichnenden Trends und die erforderlichen Qualifikationen.
Die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung (GB Psyche) wurde 2013 im Arbeitsschutzgesetz konkret verankert, um der wachsenden Zahl der psychisch bedingten Krankheitsausfälle Rechnung zu tragen. Der steigende Handlungsbedarf führt dazu, dass die GB Psyche zunehmend als Präventionsinstrument in Unternehmen zum Einsatz kommt. Somit ist auch Know-how zur Umsetzung und Expertise zu psychischen Einflüssen am Arbeitsplatz gefragter denn je: Denn mittlerweile ist die GB Psyche ein nicht mehr wegzudenkender Bestandteil des betrieblichen Gesundheitsmanagements. Ist dies nur ein temporärer Trend oder ein Wandel in der Gesundheitsbranche? Worauf müssen wir uns einstellen und welche Qualifikationen müssen für diese komplexe Analyse vorhanden sein? Die IST-Hochschule für Management hat zu diesem Thema den Experten Herrn Michael Bode, Geschäftsführender Gesellschafter der VisionGesund Gesellschaft für betriebliches Gesundheitsmanagement GmbH interviewt.
IST: Sehr geehrter Herr Bode, wie schafft ein Unternehmen optimale Voraussetzungen für gesunde Arbeit?
Bode: „Der wichtigste und erste Schritt kann immer nur die Entscheidung sein: Will die Unternehmensleitung die Gesundheit am Arbeitsplatz als Teil der Unternehmensstrategie fördern oder nicht. Um optimale Voraussetzungen für gesunde Arbeit zu schaffen, braucht es die Verbindlichkeit der obersten Leitungsebenen und eine entsprechende Haltung in Fragen der Gestaltung von Arbeitsbedingungen. Dann kann eine Organisation damit beginnen, neben bspw. der Gestaltung ergonomischer Arbeitsplätze und Prozesse, für grundsätzliche Gesundheitsfragen zu sensibilisieren und dabei auch das psycho-soziale Wohlbefinden der Mitarbeiter:innen zu berücksichtigen. Die psychische Gefährdungsbeurteilung setzt eben dort an. Sie widmet sich der psychischen Belastung im Arbeitsalltag mit dem Ziel, die betrieblichen Gegebenheiten (beispielsweise hinsichtlich der Arbeitsaufgaben, Umgebungsbedingungen, betrieblichen Organisation, zwischenmenschlichen Beziehungen oder auch neuen Arbeitsformen) zu optimieren und dadurch die Mitarbeiter:innengesundheit zu fördern. Im besten Fall kommen im Rahmen einer GB Psyche alle, oder zumindest ein repräsentativer Teil der Mitarbeitenden, zu Wort. Auf diese Weise kommen Befinden und Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen zum Vorschein. Auch können Schwachstellen z. B. in Abläufen und Strukturen identifiziert und angepasst werden, was auch der Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens zugutekommt.“
IST: Die Gefährdung durch psychische Belastung analysieren, das erscheint eine sehr komplexe Aufgabe, wie genau findet diese Analyse statt?
Bode: „Ja, es ist sehr komplex und lebendig, daher sollte eine GB Psyche übrigens auch regelmäßig, also alle 2-5 Jahre, wiederholt werden, damit sie aktuell bleibt. Um dazu einen Eindruck zu gewinnen, haben wir vor einiger Zeit eine kurze Tutorial-Reihe entwickelt, welche die unterschiedlichen Schritte eines solchen Prozesses für Einsteiger erklärt. Es gibt hervorragende Analyseinstrumente zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung. Drei zentrale Methoden kommen in der Regel zum Einsatz. Zunächst einmal gibt es die standardisierte Mitarbeiter:innenbefragung. Sie bietet als Grobanalyse einen ersten Eindruck über die Gefährdungspotenziale im Unternehmen und alle Mitarbeiter:innen können sich beteiligen. Zudem bietet sie auch den großen Vorteil der Anonymität. Wichtig ist, dass geeignete Screening-Fragebögen eingesetzt werden. Wir raten dringend davon ab, eigene Fragebögen zu entwickeln oder nach Gutdünken aus dem Internet herunterzuladen. Über konkrete Ursachen für Belastungen verrät die Mitarbeiter:innenbefragung allerdings noch nichts. Daher erfordert dieser Zugang immer eine zweistufige Analysephase mit einer nachgreifenden Feinanalyse und erst dann kann es zur Maßnahmenplanung kommen. Eine zweite Methode ist das sogenannte Workshopverfahren. Hier wiederum wird eine repräsentative Runde an Mitarbeiter:innen zusammengestellt, welche ohne Beteiligung von Führungskräften im Rahmen eines strukturierten Prozesses Aussagen zu Problemen, Lösungen und Ressourcen machen können. Die Führungskräfte kommen dann in einem zweiten Workshop zur Maßnahmenplanung hinzu. Eine offene Vertrauenskultur ist hier von Vorteil für den Erfolg des Analyseworkshops. Eine dritte Analysemethode ist das Beobachtungs-Interviewverfahren. Hier wiederum werden Mitarbeiter:innen bei ihren Tätigkeiten durch geschulte Expert:innen begleitet und anhand eines standardisierten Tools interviewt. Diese Methode ist dadurch interessant, dass sie nicht nur die subjektiven Einschätzungen der Mitarbeiter:innen aufgreift – sollte aber durch zwei Personen gleichzeitig durchgeführt werden, um Interpretationsfehler zu reduzieren. In der Praxis wird sie jedoch aufgrund des Aufwands kaum eingesetzt.“
IST: Ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung ein Zukunftsthema?
Bode: „Naja, jeder Betrieb mit nur einer angestellten Person in Deutschland muss die GB Psyche durchführen. Solange die Aufsichtspersonen noch nicht im Hause stehen, haben Unternehmer:innen noch die Entscheidung zu treffen, zu welchem Zeitpunkt sie diese durchführen wollen – die Frage nach dem „ob“ stellt sich gar nicht. Für mich stehen allerdings eher die Übernahme sozialer Verantwortung und der erreichbare Wettbewerbsvorteil im Vordergrund: Gerade durch die aktuellen Entwicklungen der heutigen digitalisierten Welt, die durch steigendes Aufgabenvolumen, ständige Erreichbarkeit, Multi-Channel-Kommunikation und Work-Life-Verschmelzung gekennzeichnet ist, sind kontinuierliche Verbesserungsprozesse, wie die GB Psyche einer sein kann, sehr wichtig geworden. Die Brisanz des Themas schlägt sich in den Zahlen nieder. Psychische Erkrankungen oder Beschwerden sowie die sogenannte Mitarbeiterresignation verzeichnen seit Jahren steigende Zahlen in Unternehmen und haben großen Effekt auf die Wirtschaftlichkeit. Der Handlungsbedarf ist damit mehr als deutlich. Immer mehr Unternehmen erkennen dies und setzen das Instrument der GB Psyche präventiv für Ihre Mitarbeiter:innen ein. Andere reagieren zu spät. Doch diese Entwicklung wird auch in Zukunft große Bedeutung haben, da habe ich keine Zweifel.“
IST: Erfährt auch die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung einen Trend hin zur Digitalisierung?
Bode: „Hier würde ich eine klassische Antwort wählen: Ja, aber. Die pandemiebedingte Notwendigkeit zur Digitalisierung hat die Durchführung der GB Psyche erst vor enorme Herausforderungen und dann zu einer effizienteren Umsetzung geführt. Gleichzeitig gibt es jetzt vermehrt digitale Tools, die eine sehr schnelle und niedrigschwellige Umsetzung mit nur wenigen Klicks versprechen. Bei der Analyse können diese Tools hilfreich sein, die Beurteilung der Gefährdung und die Planung der Maßnahmen kann allerdings nur durch fachkundige Personen erfolgen.
Mittlerweise können wir auf umfangreiche Projekte und Erfahrungen zurückblicken und wissen, dass die GB Psyche auch 100 % digital in jedem Unternehmen umgesetzt werden kann, ohne dass dadurch Nachteile für die Beteiligten entstehen. Im Gegenteil kann dies bei dezentraler Organisation oder z. B. einem hohen Anteil von remote arbeitenden Personen ein richtiger Kostenspar-Faktor sein. Allerdings sind vielleicht nicht alle Mitarbeiter:innen ohne zusätzliche Unterstützung (z. B. Bereitstellung von Tablets) mit digitalen Angeboten zu erreichen. Nach der Pandemie nun wieder individuell auf die Gegebenheiten in dem jeweiligen Unternehmen eingehen zu können, empfinde ich als großen Vorteil. Dass also rein digitale Tools die persönliche Beratung und die moderierten und unternehmensspezifisch strukturierten Prozesse ablösen, halte ich für äußerst unwahrscheinlich.“
IST: Wer führt die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung durch und welche Qualifikationen sind hierfür entscheidend?
Bode: „Arbeitsschutzdienstleister und auf das betriebliche Gesundheitsmanagement spezialisierte Beratungsunternehmen sind häufig in der Lage, diesen Prozess zu begleiten. Dazu gibt es eine wachsende Zahl an Weiterbildungen, um die Kompetenz zur Durchführung oder Begleitung dieses Prozesses zu erlangen. Expert:innen, die für die Durchführung der GB Psyche qualifiziert sind, verfügen meist über ein Studium im Bereich Psychologie oder Wirtschaftspsychologie oder auch im Gesundheits- und Sportmanagement, wobei sie eine fundierte Methoden- und Kommunikationskompetenz sowie Fachwissen benötigen, was häufig nicht allein durch das Studium erworben werden kann. Tatsächlich müssen Expert:innen im BGM und im Arbeitsschutz viele Disziplinen vereinen, wie zum Beispiel Know-how in den Bereichen Gesundheit, Management und Organisation, aber auch Softskills wie Kommunikationsstärke, Menschenkenntnis, Sicherheit im Umgang mit Multimedia und Freude an der Präsentation. Die Arbeit ist vielfältig und geht von der Workshopmoderation über Statistik und Datenauswertung. Und was ganz entscheidend ist: Oftmals entsteht hier der Fahrplan für nachhaltig gesunde Arbeit, somit ist auch strategisch-konzeptuell und vorausschauende Denkweise gefragt.„
Die richtige Qualifikation finden
Das IST-Studieninstitut bietet zwei Fortbildungen zum Thema BGM an: das IHK-Zertifikat „Betriebliches Gesundheitsmanagement“ sowie die Diplom-Weiterbildung „Manager/-in für Gesundheit im Betrieb“ an. Hier ist das IST-Zertifikat „Psychosoziale Gesundheit im Betrieb“ inkludiert.
An der IST-Hochschule ermöglichen sowohl der Bachelor „Management im Gesundheitswesen“ als auch der Master-Studiengang „Prävention, Sporttherapie und Gesundheitsmanagement“, einen inhaltlichen Schwerpunkt auf BGM zu legen.